Ася Умарова:
Моя статья о бабушке, где большая часть в статье отведена депортации, опубликована в одном из ведущих изданий Германии.
Großmutters größter Schmerz
Selimat Achmedova ist 89. Sie hat die grausame Deportation der Wainachen 1944 und die Tschetschenienkriege überlebt. Wie blickt sie zurück auf ihr Leben? VON ASYA UMAROVA
Selimat Achmedova, 89, in ihrem heutigen Zuhause. Ihr größter Wunsch wird sich nicht mehr erfüllen. | © Asya Umarova
Meine Großmutter Selimat Achmedova hat vor acht Jahren ihr Augenlicht verloren. Sie schafft es gerade noch aus dem Schlafzimmer in die Küche, wenn sie sich an den Möbeln festhält. Rund um die Uhr wird sie von ihren Töchtern und Enkelinnen betreut. Im Schlaf schreit sie oft, jemand scheint ihr Angst einzujagen. Tagsüber singt sie Totenlieder, im Tschetschenischen Uzam-Lieder genannt. Wer dem Text lauscht, bekommt es mit der Angst zu tun:
Freut euch nicht, an der großen Welt.
Im Grab bedeckt eine Platte die Welt.
Oder:
Freut euch nicht, an eurer großen Familie.
Denn ins Grab legen wir uns allein.
Der Uzam markiert den Ursprung mündlicher tschetschenischer Volksweisen. Alte Frauen singen diese Lieder noch heute im Haus oder auf Beerdigungen. Gesungen wird über die Deportation der Wainachen – so nennen sich die Tschetschenen und die benachbarten Inguschen, es bedeutet "unser Volk" – nach Mittelasien und Kasachstan. Oder über den Liebsten, der in den Krieg zog. Über die Verstorbenen oder die Angst vor dem nahenden Tod. Ihre Dankesgebete sind an die Berge gerichtet, die Sonne, den Fluss und an Deli, so heißt Gott in Tschetschenien. Dialoge mit der Natur sind allgegenwärtig, denn bis zur Islamisierung im späten 18. Jahrhundert waren die Tschetschenen Heiden; die Göttin der Fruchtbarkeit und des Frühlings wurde in der wainachischen Mythologie Tuscholi genannt. Mithilfe der Gesänge heilen die tschetschenischen alten Frauen den Seelenschmerz ihrer Erinnerungen. Sie sind voll von Leid.
Meine Großmutter Selimat hat zwei Tschetschenienkriege und die gewaltsame Vertreibung der Wainachen im Jahre 1944 überlebt. Sie lässt die Rosenkranzperlen durch ihre Finger gleiten. Als sie 19 Jahre alt war, hat sie sie von ihrer Mutter zur Hochzeit geschenkt bekommen. Das war 1945.
Vor der Deportation lebte sie im Dorf Kesala, in der Region Scharoj, hoch in den Bergen. Ihr Vater, ein Kolchosvorsitzender, fuhr einmal im Jahr in die Stadt Grosny. Eines Tages kehrte er mit einem Koffergrammofon zurück. Alle Dorfbewohner versammelten sich auf seinem Hof und lauschten erhitzt der Musik. Sie hatten noch nie etwas Ähnliches gesehen oder gehört.
ASYA UMAROVA
© Privat
Die tschetschenische Autorin und Künstlerin Asya Umarova wurde 1985 in Proletarskoe nahe Grosny geboren. Sie studierte Journalistik in Grosny, veröffentlichte Artikel in zahlreichen in- und ausländischen Medien. In den vergangenen Jahren ist sie verstärkt für tschetschenische NGOs und als bildende Künstlerin tätig gewesen.
Mädchen gingen normalerweise nur bis zur zweiten Klasse in die Schule, man meinte, sie würden sowieso im Dorf heiraten und bräuchten keine Bildung. Aber meine Großmutter hatte Glück, sie durfte fünf Jahre zur Schule gehen. Während des Großen Vaterländischen Krieges wurden viele junge Männer an die Front geschickt. Die meisten wollten nicht in den Krieg und haben sich in den Bergen versteckt, aber sie wurden schnell gefunden. Auch ihr Bruder musste an die Front, sie hat nie mehr etwas von ihm gehört.
Am frühen Morgen des 23. Februar 1944 drangen Bewaffnete ins Haus der Familie meiner Großmutter und forderten alle auf, es sofort zu verlassen. Die Soldaten sprachen Russisch. Niemand verstand diese Sprache. Die Bewohner warfen sich nur schnell warme Kleidung über. Essbares nahmen sie nicht mit, sie ahnten ja nicht, wohin es gehen sollte. Überall wurden Häuser angezündet, alle weinten, schrien, Kühe rannten aus den brennenden Ställen. Dann wurden sie aus dem Dorf zu Fuß über die Berge getrieben. Dort lud man sie in Viehwaggons und brachte sie auf eine zweiwöchige Fahrt nach Kasachstan.
Alle, die zurückblieben, Kranke, Kleinkinder und Alte, wurden erschossen.
Drei Söhne, fünf Töchter
Das allererste Foto in Selimats Leben, 1974 mit ihrem Sohn | © privat
Mehr als 490.000 Wainachen wurden ausgesiedelt, unterwegs starben ungefähr 1.200. Sie hatten keine Ahnung, wohin sie fuhren, niemand erklärte es ihnen. Insgesamt kamen bei den Deportationen 30 bis 50 Prozent der Bevölkerung um. Selimat Achmedovas Vater war nicht unter den Deportierten. Noch vor Sonnenaufgang war er nichts ahnend mit den Kühen auf die Weide gegangen. Als er am Abend zurückkehrte, fand er das Dorf niedergebrannt.
Im Waggon waren ungefähr 40 Frauen, Männer, Kinder und Alte. Frauen starben an ihren zerplatzten Harnblasen, denn sie wagten es nicht, vor allen Wasser zu lassen. Unterwegs durchsuchten die Soldaten die Waggons nach Toten und warfen die Leichen aus dem Zug. Die Wainachen versteckten ihre Toten vor den Soldaten, die die Waggons kontrollierten, um sie an der Endstation zu beerdigen. Der Zug hielt selten, auszusteigen war verboten. Manchmal wurden Brot und Wasser ausgegeben. Meinem mittlerweile verstorbenen Großvater Dada hat ein alter Mann sein ganzes Brot gegeben. Dada war ein Kind. Der Alte hat Kasachstan nicht erreicht, er starb an Hunger.
Und als der Fluss uns nachweinte,
nahmen wir Abschied von den Berggipfeln.
Nach Sibirien fuhren wir,
dem Hungertod entkommen,
können die Qualen nicht vergessen.
Hilf uns bitte, Allmächtiger.
Die ersten beiden in Kasachstan geborenen Kinder meiner Großmutter starben an den unerträglichen Zuständen. Danach brachte sie noch drei Söhne und fünf Töchter zur Welt. Sie säuberte fremde Gärten, verrichtete Feldarbeit, half bei der Ernte. Dafür bekam sie Lebensmittel. Das erste verdiente Geld wurde für eine Reise in die Tschetschenische Republik beiseite gelegt. Alle glaubten an eine Rückkehr in die Heimat, auch wenn niemand ihnen Hoffnung machte.
Fünf Jahre nach der Deportation bekam Großmutter Post von ihrem Vater, dass er sich 250 Kilometer entfernt von ihrem Dorf Kaspan in der Sowchose Leninskij aufhielt. Ihr war aber nicht erlaubt, das Dorf zu verlassen. Großmutter Selimat flehte den Kommandanten an, eine Ausnahme zu machen, sie bekam stets dieselbe Antwort: "Reisen zu den Angehörigen sind nicht gestattet." Heimlich verließ sie das Dorf und verbrachte eine ganze Woche mit ihrem Vater. Der Kommandant im Dorf von Selimats Vater erwies sich als freundlicher. Er erlaubte ihm, seine Tochter mit dem Schlitten bis Kaspan zu begleiten. "Der Weg war sehr lang und es war kalt, aber das war die glücklichste Reise meines Lebens. Ich habe mich nie wieder so gefreut wie damals." Großmutter schluchzt und legt sich ins Bett.
Zehn Jahre später gestattete man der Familie, nach Tschetschenien zurückzukehren. Bekannte informierten sie darüber, dass ihr Dorf Kesala nicht mehr existierte. Die zerstörten Häuser waren mit Bäumen und Büschen überwachsen. Großmutter Selimat und ihr Mann ließen sich in einem Dorf unweit von Grosny nieder. Sie mieteten von Russen ein Haus mit einem Zimmer. Großmutter fand Arbeit im Gewächshaus. Großvater arbeitete als Pförtner in einer Fabrik. "Mir war es wichtig, allen meinen Kindern Bildung zu ermöglichen, und ich bin sehr froh, dass alle klug geworden sind", sagt sie stolz.
Das Einzige, was Großmutter aus Kasachstan mitbrachte, war eine traditionelle Truhe. Wenn die Tschetscheninnen heirateten, wurden darin Kleidung und Geschenke für die Verwandtschaft des Mannes aufbewahrt. Die Truhe meiner Großmutter wurde kein einziges Mal zweckgemäß genutzt, in Tschetschenien kamen stattdessen große Koffer in Mode. Aber Selimat erlaubte nicht, sie wegzuwerfen.
Ihr ganzes Leben träumte sie davon, in ihr altes Dorf zu fahren. Selimat beneidete meine andere Großmutter Chada, die 50 Jahre nach der Deportation noch einmal ihren Heimatort sehen konnte. Mein Vater erfüllte ihren letzten Wunsch und trug sie auf dem Rücken über die Berge. Chada verbrachte zwei Wochen in einer Erdhütte. Striff durchs Dorf, besuchte die Reste ihres Hauses, des Friedhofs, der Moschee. Vier Monate später, am 15. Dezember 1994, blieb ihr Herz stehen. Der erste Krieg hatte gerade begonnen.
Selimats größte Angst war, dass die Söhne in den Krieg ziehen und sie sie verlieren könnte. Nach tschetschenischem Brauch dürfen Söhne nicht ohne den Segen der Eltern an die Front. Sonst gelangen sie, falls sie sterben, nicht ins Paradies. Großmutter verweigerte ihren Söhnen den Segen. Doch der Krieg kam ins Dorf und mit ihm die Säuberungen. Selimat blieb in dieser Zeit einige Monate in Dagestan, während des zweiten Krieges war sie in Inguschetien. Hunger litt sie nie, denn Großmutter hält seit der Deportation beständig einen Lebensmittelvorrat, der mehrere Monate reicht.
Selimats Traum, Kesala noch einmal wiederzusehen, wird sich nicht erfüllen. "Selbst wenn ihr mich dorthin bringt, ich kann nichts mehr sehen. Ich hätte es früher schaffen müssen." Während Großmutter in Kasachstan Geld für die Rückkehr in die Heimat beiseite legte, spart sie heute ihre Rente für die Beerdigung. Sie wünscht sich sehr, dass an diesem Tage alle in ihr Haus kommen und ihr zu Ehren speisen.
Übersetzt aus dem Russischen von Elke Bredereck